kommentare
hugo ball: „sechs laut- und klanggedichte“ {repertoire} {projekte}
„[…] ich habe eine neue gattung von versen erfunden, „verse ohne worte“ oder lautgedichte, in denen das balancement der vokale nur nach dem werte der ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. die ersten dieser verse habe ich heute abend vorgelesen. […] ich hatte an drei seiten des podiums gegen das publikum notenständer errichtet und stellte darauf mein mit rotstift gemaltes manuskript, bald am einen, bald am andern notenständer zelebrierend. […] und begann langsam und feierlich: gadji beri bimba […] die akzente wurden schwerer, der ausdruck steigerte sich in der verschärfung der konsonanten. ich merke sehr bald, dass meine ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden preis) dem pomp meiner inszenierung nicht würden gewachsen sein. […] ich fürchtete eine blamage und nahm mich zusammen. ich hatte jetzt rechts am notenständer „labadas gesang an die wolken“ und links die „elefantenkarawane“ absolviert und wandte mich wieder zur mittleren staffelei, fleißig mit den flügeln schlagend. die schweren vokalreihen und der schleppende rhythmus der elefanten hatten mir eben noch eine letzte steigerung erlaubt. wie sollte ich’s aber zu ende führen? da bemerkte ich, daß meine stimme, der kein anderer weg mehr blieb, die uralte kadenz der priesterlichen lamentation annahm, jenen stil des meßgesangs, wie er durch die katholischen kirchen des morgen- und abendlandes wehklagt. ich weiß nicht was mir diese musik eingab. aber ich begann meine vokalreihen rezitativartig im kirchenstile zu singen und versuchte nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den ernst zu erzwingen. […]“
hugo ball: flucht aus der zeit
„[…] ich lese verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle sprache zu verzichten, (sie) ad acta zu legen. […] ich will keine worte, die andere erfunden haben. alle worte haben andere erfunden. ich will meinen eigenen unfug, meinen eigenen rhythmus und vokale und konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. […]
da kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte sprache entsteht. ich lasse die vokale kobolzen. ich lasse die laute ganz einfach fallen, etwa wie eine katze miaut… worte tauchen auf, schultern von worten; beine, arme, hände von worten. au, oi, uh. man sollte nicht zuviel worte aufkommen lassen. ein vers ist die gelegenheit, allen schmutz abzutun. ich wollte die sprache hier selber fallen lassen. […] das wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. dada ist das herz der worte.
jede sache hat ihr wort, aber das wort ist eine sache für sich geworden. warum soll ich es nicht finden? […] das wort, das wort außerhalb eurer sphäre, eurer stickluft, dieser lächerlichen impotenz, eurer stupenden selbstzufriedenheit, außerhalb dieser nachrednerschaft, eurer offensichtlichen beschränktheit. das wort, meine herren, das wort ist eine öffentliche angelegenheit ersten ranges. […]“
hugo ball: das erste dadaistische manifest
blablabor: „das liedlied“ {repertoire} {projekte}
das liedlied
also lieder. darin sollen text und musik keine getrennten künste sein, sondern sprache als klang, und mehr noch: blablabor entschlüsselt die sprache als sternenklaren singsang. es ist ein destillat aus dem wort selber. es macht das wort singend.
inhaltlich setzt sich das liedlied mit dem lied auseinander. formal handelt es sich um ein lied. klanglich formuliert es sich aus der sprache. gegliedert ist das liedlied in ein grosses lied und 13 darin enthaltenen kleine lieder.
das liedlied ist ein hörspiel für das radio. die kleinen lieder sind hits für eine cd.
das wort
komprimiert ist in einem wort, was sich über jahrhunderte an bedeutungs- und klangverschiebungen sedimentiert hat, was inzwischen in varietäten verschiedener sprachen und dialekte aufgegangen ist. wird ein wort dekomprimiert, öffnen sich explosiv welten. es zeigt sich ein universum an sinnzusammenhängen und klangskulpturen.
für eine sprachvergleichende analyse zieht blablabor aussereuropäische sprachen bei. unbekannte sprach- und denklandschaften. überraschende bedeutungen, unerwartete wurzeln. ergründen und auskundschaften helfen blablabor fachpersonen ihrer eigenen muttersprache. für das liedlied bilden sich neue wörter. sie bereichern, ergänzen, spiegeln, was zuvor nur in deutsch gedacht wurde.
ausgewählte wörter, sowie von blablabor kreierte kunstsätze werden musikerInnen vorgesprochen. diese übersetzen die klanggebilde instrumental. die so entstandenen musikalischen gestalten werden einer sängerin vorgespielt, die wiederum eine übersetzung in ihr medium vornimmt.
das wort wird sowohl semantisch als auch klanglich gedehnt; das wort bläht sich zum üppigen wortkörper auf. blablabor beleuchtet seine eingeweide; den grossen wortschatz und staunt ...
das kleine lied
ein kleines lied besteht aus dem fundus eines wortes. im kleinen lied macht blablabor die zuvor gewonnene vielheit fasslich, erlangt eine klarheit als nun reflektierte.
das wort des kleinen liedes, sein wort, wird gesprochen, aufgenommen, im computer auf ein bis drei minuten gedehnt, visualisiert, ausgehorcht; und dann:
die landschaft schauen.
es ist die klangliche topographie des wortes; innenwohnende landschaft. wölbungen, abgründe, tiefen, klängen, weiten, höhen. die topographie des wortes bestimmt länge, anordnung und häufigkeit der wiederkehr von strophe und refrain. auskunft zum ‚klang’ des kleinen liedes gibt das differenzierte innenleben: mikrotonal verschieben sich ebenen, sprache zerfällt in knacklaute.
das kleine lied kristallisiert gedanken, sinnzusammenhänge und klangcharaktere eines wortes zu einer idee. die idee formuliert sich in ihrer klarheit zu einem hit.
blablabor
john cage: vorwort zu „silence“ {repertoire} {projekte}
„über zwanzig jahre lang habe ich artikel geschrieben und vorträge gehalten. viele waren in ihrer form ungewöhnlich – das gilt besonders für die vorträge – da ich hier analoge kompositionsprinzipien wie auf dem gebiet der musik angewendet habe. meine absicht war dabei oft, das, was ich zu sagen hatte, so zu sagen, daß es anschaulich wurde; dadurch würde es begreiflicherweise dem zuhörer eher möglich sein, zu erfahren, was ich zu sagen hatte, als wenn er nur darüber etwas hörte. [...]
so hielt ich auch um 1949 meinen „vortrag über nichts“ beim künstler-club in der 8. straße von new york city. [...] dieser „vortrag über nichts“ ist in der gleichen rhythmischen struktur geschrieben, die ich damals in meinen musikalischen kompositionen anwandte. [...]
wenn ich zurückblicke, stelle ich fest, dass ich schon früh eine beziehung zur dichtung hatte. [...] seit dem „vortrag über nichts“ sind mehr als ein dutzend unkonventionell verfaßter stücke entstanden, einschließlich einiger, bei denen zufallsoperationen eine rolle spielten, und eines textes, der weitgehend aus eine reihe unbeantworteter fragen bestand. als mich m.c. richards fragte, warum ich nicht einmal einen konventionell informativen vortrag halten könnte, wobei sie hinzufügte, dass so etwas das schockierendste sein würde, was ich tun könnte, sagte ich: “ich halte diese vorträge nicht, um die leute zu überraschen, sondern aus poetischer notwendigkeit.“
wie ich es sehe, ist poesie einfach deshalb nicht prosa, weil poesie auf die eine oder andere art formgebunden ist. sie ist nicht poesie aufgrund ihres inhaltes oder ihrer mehrdeutigkeit, sondern weil sie erlaubt, in die welt des wortes musikalische elemente (zeit, klang) hineinzunehmen. so gibt es traditionen, durch poesie informationen zu übermitteln, und sei diese noch so trocken (z.b. die sutras und shastas indiens). auf diese weise war sie leichter zu erfassen. karl shapiro mag ähnlich gedacht haben, als er seinen „essay über den reim“ in gedichtform schrieb. [...]
john cage (übersetzung: ernst jandl)
„sechs quadrate aus transparentem material, eines davon mit punkten in 4 größen: die 13 sehr kleinen sind einzelklänge; die 7 etwas größeren sind 2 klänge; die 3 noch größeren sind 3 klänge; die 4 größten 4 oder mehr klänge. mehrfachklänge werden gleichzeitig oder als „konstellationen“ gespielt. für mehrfachklänge werden eine entsprechende anzahl der 5 anderen quadrate (jeweils mit 5 linien) oder eine entsprechende anzahl von positionen (von denen jedes quadrat 4 besitzt) benutzt um festlegungen zu treffen. die 5 linien bedeuten: tiefste tonhöhe, einfachste obertonstruktur, größte lautstärke, längste dauer und frühestes auftreten innerhalb einer vorher festgelegten zeitdauer. senkrechte von den punkten zu den linien ergeben die abstände, die gemessen oder einfach nur geschätzt werden. jede anzahl von ausführenden; jede art und anzahl von instrumenten.“
john cage (übersetzung: hartmut andres)
in meiner fassung der „variations I“ für einen sprecher bin ich wie folgt vorgegangen: die in den punkten repräsentierten klangereignisse waren für mich, mit dem phoneminventar der deutschen sprache gebaute und nach den entsprechenden phonologischen regeln wohlgeformte silben. entsprechend waren einzelklänge einsilbige und mehrfachklänge mehrsilbige wörter. die einzelnen linien habe ich wie folgt interpretiert: 1. sprechtonhöhe (6 möglichkeiten), 2. vokal/konsonantkombination (9 möglichkeiten), 3. lautstärke (6 möglichkeiten), 4. vokaldauer (2 möglichkeiten), 5. aufeinanderfolge der ereignisse (regelte auch die pausen zwischen den ereignissen). in einem zweiten wurf wurden mithilfe eines anderen quadrats 1. der vokal oder diphtong des silbengipfels und 2. – 5. der oder die initiale(n) und/oder finale(n) konsonanten festgelegt.
hartmut andres
john cage: „unbestimmtheit“ {repertoire}
„spät im september 1958, machte ich mich in einem hotel in stockholm daran, diesen vortrag zu schreiben, den ich eine woche später auf der weltaustellung in brüssel halten sollte. ich erinnerte mich an eine bemerkung, die david tudor vor jahren gemacht hatte, dass ich einen vortrag halten sollte, der nur aus geschichten bestehen würde. die idee war verlockend, aber ich hatte sie nie umgesetzt und beschloss, das jetzt zu tun.
als der vortrag in brüssel gehalten wurde, bestand er nur aus dreißig geschichten, ohne musikbegleitung. ein rezital von david tudor und mir, musik für zwei klaviere, folgte dem vortrag. der volle titel war „unbestimmtheit, neue aspekte von form in instrumental- und elektronischer musik“. [...]
im folgenden frühjahr, zurück in amerika, hielt ich den vortrag wieder, am lehrerkolleg in columbia. für diese gelegenheit schrieb ich sechzig weitere geschichten und es gab eine musikbegleitung von david tudor – material aus dem „concert for piano and orchestra“, in dem er mehrere radios als geräuschelemente benutzte. bald danach wurden diese neunzig geschichten auf einer folkways-platte herausgebracht, aber diesesmal waren die geräuschelemete im „concert“, einzelspuren von „fontana mix“.
bei der mündlichen darbietung dieses vortrags erzähle ich eine geschichte pro minute. wenn sie kurz ist, muss ich sie ausdehnen, wenn ich zu einer langen komme, muss ich so schnell sprechen, wie ich kann. die abfolge der geschichten, so wie sie aufgenommen wurden, war nicht geplant. ich machte einfach eine liste von all den geschichten, die mir in den sinn kamen und hakte sie ab indem ich sie schrieb. [...] meine absicht dabei, die geschichten auf eine nicht geplante weise zusammenzustellen war, darauf hinzuweisen, dass alle dinge – geschichten, die zufälligen geräusche der umgebung, und als ausweitung, alle wesen – in beziehung stehen und dass diese komplexität klarer ersichtlich ist, wenn sie nicht, durch die Idee einer beziehung im verstand einer einzelnen person, allzusehr vereinfacht wird.
seit dieser aufnahme habe ich fortgefahren geschichten aufzuschreiben, so wie ich sie gefunden habe und so sind es jetzt weit über neunzig. die meisten betreffen dinge die geschehen sind, die mir im gedächtnis geblieben sind. andere habe ich in büchern gelesen und erinnerte mich an sie [...]. wieder andere wurde mir von freunden erzählt [...]. xenia, die in mehreren von ihnen auftaucht, ist xenia andreyevna kashevaroff, mit der ich ungefähr zehn jahre verheiratet war. [...]"
john cage: einleitung zu „unbestimmtheit“ („stille“ s.260, übersetzung: hartmut andres)
seit dem herbst 1965 benutzte john cage immer wieder geschichten aus „unbestimmtheit“ als begleitmusik zu merce cunninghams choreographie „how to pass, kick, fall and run“.
diese choreographie kann nicht für eine solotänzerin adaptiert werden. teresa isabella mayer und ich fanden allerdings die idee einer nicht illustrierenden, völlig vom tanz unabhängigen begleitung aus einzelnen geschichten so faszinierend, dass wir beschlossen haben, die geschichten aus „unbestimmtheit“ mit einer simultan-aufführung von deborah hays „art&life“ zu überlappen.
hartmut andres
john cage: „stufen, an autoku for siegfried unseld“ {repertoire}
der amerikanische komponist john cage (1912-1992) hat seit den 50er jahren immer auch als schriftsteller gearbeitet. am anfang waren seine texte nach musikalischen methoden komponierte vorträge über seine musik, später schrieb cage dann auch eigenständige literarische texte, tagebücher, essays und großangelegte gedichtzyklen. cages literarische arbeiten entstanden oft in der auseinandersetzung mit dem werk anderer schriftsteller wie z.b. henry thoreau oder james joyce. er benutzte zufallsoperationen oder andere nichtintentionale verfahren wie durchlesemethoden um in deren texten die wörter für seine gedichte zu finden.
so entstand 1989 auch cages einziger längerer text in deutscher sprache: „stufen, an autoku for siegfried unseld“ als geburtstagsgeschenk für den widmungsträger. cage schrieb sein gedicht durch das gleichnamige gedicht von herrmann hesse. er benutzte den text des gedichtes als akrostische mittelachse um mit seiner hilfe die wörter des gedichts zu finden. (siehe auch meinen kommentar zu „wörter nd enden aus goethe“ von jackson mac low) es ist faszinierend wie cages gedicht im gleichen wortmaterial eine eigene sprache findet, neue zusammenhänge erschließt, ausschließlich die wörter von hesse benutzt und doch eine ganz eigenständige arbeit darstellt. für ein deutschsprachiges publikum bietet dieser text die einzige möglichkeit, einen authentischen eindruck von cages dichterischem spätwerk zu erhalten.
hartmut andres
john cage:„ one12 für einen vortragenden“ {repertoire} {projekte}
cage „zahlenstücke“ entstanden als eine lose werkgruppe in seinen letzten lebensjahren seit 1987. der titel bezeichnet ganz einfach das wievielte stück für eine bestimmte anzahl von aufführenden es ist. one12 ist also das zwölfte stück für einen aufführenden. es entstand 1992 als auftrag für das festival „quaderni perugini di musica contemporana“. cage schrieb es für sich selbst als interpreten. die partitur ist ganz schlicht: eine computergenerierte zufällige folge von 640 zahlen zwischen 1 und 12. dazu die anweisung, die zahlen 2 – 11 als eine folge von geflüsterten/ vokalisierten vokalen/ konsonanten der entsprechenden anzahl zu interpretieren, die zahl 1 als „leeres wort“ (konnektiv, pronomen, artikel ...), die zahl 12 als „volles wort“ (nomen, verb, adjektiv …). besonders im werk von cage ist die vorschrift, die vokale/ konsonanten und die „leeren“ und „vollen“ wörter aus dem moment zu improvisieren. diese verbindung von einem festen rahmen (anzahl der sprachklänge oder „leeres“/ „volles“ wort) mit der vorschrift, die inhalte zu improvisieren (eine ausarbeitung vor der aufführung ist in der partitur nicht vorgesehen) macht die realisation zu einer herausforderung für den interpreten.
nachdem ich die aufnahme der einzigen aufführung von cage (1992 in perugia, es ist die letzte aufführung einer solokomposition für sprecher durch ihn selbst) durchgehört hatte, war schnell klar, wie pragmatisch cage mit dem problem der aufführungsdauer umgegangen ist. eine realisation der ereignisse der kompletten folge der 640 zahlen würde ein sehr lange zeit in anspruch nehmen. offensichtlich hat er die aufführungsdauer mit 30 minuten festgelegt, hat einfach begonnen und dann entsprechend abgebrochen. so habe ich es auch gehalten. meine nächste entscheidung war, die deutsche sprache zu verwenden (meine muttersprache) und weiter, die vorgabe vokale/ konsonanten dementsprechend auf deutsche phoneme zu beziehen. alle parameter des vortrags wie wahl der phoneme, der „leeren“ und „vollen“ wörter, die sprechtonhöhe, phrasierung und rhythmische gestaltung wurden dann (nach langen und intensiven übephasen) während des vortrags improvisiert. an cages eigenem vortrag habe ich mich nicht orientiert.
hartmut andres
eugen gomrigner: das stundenbuch {repertoire} {projekte}
24 hauptwörter, den 24 stunden des tages entsprechend, stehen für die materielle: „haus“, „baum“, „leib“ , immaterielle: „geist“, „traum“, „trauer“ und soziale: „blick“, „frage“, „herkunft“ lebenswelt der menschen. verbunden werden diese wörter durch die besitzanzeigenden fürwörter „dein“ und „mein“. „dein wort – mein wort“, „deine frage – meine frage“. im pendelschlag von „dein“ und „mein“ entsteht eine beziehung, sogar mehr: eine geschichte. „dein leib – mein blick“. gomringer spielt alle kombinationen durch, er lässt keine aus, nicht die schönen, nicht die schlimmen. er geht den konsequenten weg der mathematischen permutation. das hat etwas unausweichliches und doch auch überraschendes. ausgehend von den mittelalterlichen stundenbüchern wird gomringers text eine große meditation über das leben.
ich lese gomringers stundenbuch so, dass, auf einen sekundenpuls bezogen, jeder der vier teile einen eigenen (extrem verlangsamten) rhythmus entwickelt. zusammen mit dem nachwort dauert der vortrag genau eine stunde. so hat jedes bild das ich in den raum und die zeit stelle, ausreichend platz um nachzuwirken.
hartmut andres
tom johnson: „secret songs” {repertoire} {projekte}
“When I composed Secret Songs in 1976, I never worried about making a score. Since I was going to perform the work myself, there was no need to convey instructions to anyone else, so I simply made personal notes, practiced, made revisions, practiced, memorized sequences, practiced some more, and kept practicing until I could make everthing sound the way I wanted it to sound. When Richard Kostelanetz asked to include some of the Secret Songs in this anthology, however, I decided to try to put the information on paper, [...] because I figured I would eventually want to make it possible to someone other than myself to be able to perform this material. [...] Of course, the songs themselves can be experienced more effectivly in recordings [...], but the scores below provide a clearer picture of how they are constructed and how they are performed.”
tom johnson
arthur köpcke: „reading work piece No. 2: was ist das?“ {repertoire} {projekte}
“a) choose a text (any language) and insert f.E. after every 7.
word the question “what is that” (any language)
b) you follow the principle as told in piece No. 39 (... you take
f.E. 2 words from each line of any text....) and insert in that text
you get after f.E. every 7. word the phrase “what is that” (any
language)
c) in the following text: erase with a pencil the phrase “was ist das”
or ask me for a text (see my adress in piece 20)
d) or do this:
read the text fluently
but fill the cut always
with the phrase
“what is that” (any lang-
uage)
see piece No. 39”
arthur köpcke
ich habe mich für die version d) entschieden und benutze den text von köpcke, wie er ihn 1972 in der edition “Continue...” veröffentlicht hat. dieser text ist sehr lang, ich lese einen ausschnitt (60 minuten, seite 1 bis ungefähr seite 9), komplette aufführungen auf anfrage.
hartmut andres
jackson mac low: „wörter nd enden aus goethe“ {repertoire} {projekte}
„[...] Exercise your verbal and music sensibilities to their utmost. Imagine a very tolerant Goethe listening to what you and I have made with his words. Imagine that he’s somehow acquired a sympathetic knowledge of all kinds of modern poetry – including Schwitters and whoever else you can think of as being vaguely related to this curious work.
The actual Goethe would probably have hated it but suppose that all those years have somehow endowed him with qualities and understandings far transcending those he acquired and developed in the 18th and 19th centuries. Imagine him exclaiming “what a good bit of recycling!” after you’ve finished speaking!
Only people who don’t know me well think I use terms like “avant-garde” and “experimental” about my writing and music. It’s just writing and music. Do your best with it.”
jackson mac low im austausch mit hartmut andres über “wörter nd enden aus goethe”
„wörter nd enden aus goethe“ wurde mit hilfe der von jackson mac low 1963 entwickelten diastischen durchlesemethode (einem verfahren zur herstellung von indeterminierten texten) geschrieben: man benutzt z.b. ein wort, einen namen oder einen satz als ursprungsreihe um im durchlesen eines quellentextes worte, wortfragmente oder wortreihen zu suchen, in denen die buchstaben der ursprungsreihe an den entsprechenden stellen zu finden sind. die ursprungsreihe von „wörter nd enden aus goethe“ ist der name JOHANN WOLFGANG VON GOETHE. als quellentext benutzte mac low einen band einer älteren goetheausgabe: „alles an personen oder zu festlichen gelegenheiten gedichtete“. mac low suchte also das erste wort, in dem ein J vorkommt, das nicht von einem O gefolgt wird: Jene. dann suchte er das nächstfolgende wort mit einem O, dem kein H folgt, notierte das wortfragment bis zu seinem ende: Osse und nahm, da das O in JOHANN an zweiter stelle steht, noch einen vorhergehenden buchstaben dazu: rOsse. nun war das nächste H zu finden, das nicht von einem A gefolgt wird, mit zwei vorhergehenden buchstaben: acH. hier war der gesuchte buchstabe schon selbst das wortende. als nächstes das A. gefunden, das wortfragment bis zum ende notiert und dazu die drei vorhergehenden buchstaben: en vAterland. in diesem fall musste mac low das ende des vorhergehenden wortes mit einbeziehen. schreibt man die jeweiligen buchstaben der ursprungsreihe untereinander, wird die struktur klar:
J ene | W igen | ||
r | O sse | w | O |
ac | H | ns | L eere |
en V | A terland; | nre | F reude; |
estä | N dig | Zwan | G. |
d'sche | N | er pfl | A nzte |
e, ihr ki | N derfrohen | ||
n? Er pfle | G te |
und so weiter, durch das ganze buch bis die ursprungsreihe ein letztes mal vollständig durchbuchstabiert wurde. gefunden wurden auf diese weise, wie der titel sagt: wörter nd enden aus goethe. satzzeichen die an wortenden auftauchten, benutzte Mac Low, um den text in strophen zu gliedern. strichpunkte und kommata markieren ein zeilenende; punkte, ausrufungszeichenzeichen und fragezeichen bestimmen das ende einer strophe. nachfolgend der anfang von „wörter nd enden aus goethe“ in der strophischen gliederung von mac low:
Jene rOsse acH en VAterland;
estäNdig d’scheN Wigen WO ns Leere nre Freude;
ZwanG.
er pflAnzte e,
Ihr kiNderfrohen n?
Er pfleGte Vergessen,
SO meN Gang!
hartmut andres
jackson mac low: „a word event for george brecht“ {repertoire}
„ein mann spricht ein wort, vorzugsweise keinen kraftausdruck. dann macht er sich daran, es 1. nacheinander in seine phoneme zu zerlegen und es 2. nacheinander in eine reihe von phonemen zu zerlegen für die seine jeweiligen buchstaben stehen können, egal ob diese reihe mit der ersten zusammenfällt oder nicht. nachdem jede dieser reihen im wechsel ein paar mal wiederholt wurde, permutiert er die bestandteile jeder reihe. nachdem mehrere permutationen jeder reihe im wechsel mehrmals gesprochen wurden, spricht er phoneme aus beiden reihen in zufälliger reihenfolge, ad libitum einzeln gesprochen oder zu silben kombiniert, wiederholt und/oder verlängert. er beendet dieses event, indem er eines der phoneme sehr sorgfältig ausspricht.“
jackson mac low
1961 schrieb george brecht eines der folgenreichsten und berühmtesten stücke der fluxusära: eine aufführungsanweisung mit dem titel „word event“ die nur aus dem einzigen wort „exit“ (ausgang) besteht. In einer kleinen verbeugung vor dem widmungsträger benutze ich deshalb in mac lows „word event for george brecht“ als ausgangswort das deutsche wort „ausgang“.
hartmut andres
jackson mac low: „die pronomina – eine sammlung von 40 tänzen – für die tänzer/innen“ {repertoire} {projekte}
new york war anfang und mitte der 60er jahre geprägt von einem unglaublichen aufbruch zu neuen ufern in allen bereichen der kunst. robert rauschenberg und andy warhol konzipierten die pop art, mit fluxus und happening enstanden radikale neue formen der kunst, john cage revolutuionierte die vorstellung von musik, merce cunningham, anna halprin, simone forti und andere die von tanz. neue formen des theaters wurden am living theatre vorgestellt. in diesem umfeld schrieb jackson mac low seine „die pronomina“.
der ausgangspunkt war ein päckchen von karteikarten, auf die mac low 1961 handlungsanweisungen für die tänzerin simone forti notiert hatte: „nuclei for simone forti“.
diese anweisungen bestehen aus wortlisten und kurzen aktionssätzen, die mit wenigen „kern-worten“ gebildet werden. die „kern-worte“ extrahierte mac low mithilfe von systematischen zufallsoperationen aus der „basic english word list“. aus den zufälligen kombinationen von verben und substantiven entstehen folgen von ungewöhlichen, eigenwilligen und poetischen bildern, die simone forti und andere tänzer/innen der zeit in tanzperformances umsetzten.
hier eine der nuclei-karten:
Wörter-
obwohl, Aufnahme, Klinge, Diener, Anpassung.
AKTIONEN:
DINGE GLEICH SEIN LASSEN ODER DINGE WIE EINE AMEISE TUN,
KURVEN HABEN ODER GEWICHT AUF EINEN VOGEL ZU LEGEN HABEN,
ETWAS LANGSAM UNTER EIN INSEKT LEGEN,
BEDENKLICHE LÖCHER HABEN, ODER ZU HABEN SCHEINEN,
AUF ORANGENES HAAR REAGIEREN.
für „die pronomina“ wählte mac low mithilfe des zufalls eine handlungsanweisung als titel für jeden der tänze aus. dieser titel bestimmte dann, ebenfalls durch zufallsoperationen die handlungsanweisungen für jeden tanz. diese aktionssätze verband mac low nun nach eigenem gutdünken zu grammatikalisch korrekten sätzen, indem er füllwörter einfügte und, als handelnde subjekte, für jeden tanz ein eigenes pronomen auswählte. auch die verbindung der (teil)sätze zu strophen wurde frei gewählt.
hier nun ausschnitte aus tänzen bei denen diese karte zum einsatz kam:
…
& jede/r schreit
& lässt etwas so gemacht sein wie etwas Einfaches
& scheint Dinge zu schicken oder Drähte auf Dinge zu legen,
& jede/r sagt müde Dinge,
& jede/r holt Meinungen ein
& ist ein Band oder handelt wie eine Biene
& lässt Dinge gleich sein oder tut Dinge wie eine Ameise
& hat Kurven oder hat Gewicht auf einen Vogel zu legen,
…
(25ster Tanz)
…
Später lässt dieses Dinge gleich sein oder macht Dinge wie eine Ameise
während es etwas langsam unter ein Insekt legt
& Dinge zu schicken scheint oder Drähte auf Dinge zu legen
obwohl es sich an die Nachrichten hält.
…
(12ter Tanz)
…
Wer ist jetzt ein Draht,
obwohl sie/er Dinge zu schicken scheint oder Drähte auf Dinge legt,
& entweder Kurven hat oder Gewicht auf einen Vogel zu legen hat
während sie/er etwas langsam unter ein Insekt legt,
…
(22ster Tanz)
…
Keine/r von beiden ist dann im Flug
& keine/r von beiden tut irgendetwas bewusst
während sie/er auf orangenes Haar reagiert.
…
(34ster Tanz)
…
Wann legt dann die/der andere etwas langsam unter ein Insekt
das bedenkliche Löcher hat oder zu haben scheint,
& wann macht die/der andere Fleisch vor Hitze
während er sich vergegenwärtigt, dass sie/er vorne ist,
sagt müde Dinge,
…
(36ster Tanz)
diese tanzanweisungen können, bild für bild und satz für satz umgesetzt, die grundlage für die choreographie eines tanzes werden. oder sie können ebenso als gedichte gelesen werden. auch die kombination erlaubt mac low ausdrücklich, wobei nicht jedes gelesene gedicht getanzt und nicht jeder tanz auch gelesen werden muss.
hartmut andres
kurzprosa und gedichte von franz mon {repertoire}
in kurzen oder längeren wortlisten ersetzt mon einzelne sprachklänge durch andere und/oder stellt die reihenfolge der wörter um. dadurch ergeben sich bedeutungsänderungen und rhythmuswechsel. im gegensatz zu schwitters arbeitet mon mit bekannten und vollständigen wörtern. aber diese an sich sinnvollen wörter werden dem interpreten im mund herumgedreht. plötzlich sind sie sperrig, stauen sich, dann schieben sie sich zwischen zähne und lippen. zungenbrecher oder manche abzählverse funktionieren ganz ähnlich. dem sinn der wörter folgen zu wollen wird schwierig. der klang wird freigesetzt. trotz allem bedeutenwollen entsteht musik.
hartmut andres
aus der laudatio zum büchnerpreis für oskar pastior von christina weiss
Er […] verstrickt sich in seine eigene Liebe zum Wort, zum aufgebrochenen Wort, zur Wortreihe mit Wechselspielen und Zweifällen. Es ist der »›Stoff, aus dem ich bin, meine handgeknüpfte Metapher‹; währenddessen, eingefädelt im Stich, heillos verheddert, verstrickt, übe ich darin den Salto mortale, eine Art Entbindung; gleichsam die Litanei; wie soll das ausgehn.« Die Litanei, die Wortliste, das Wörterbuch sind für Oskar Pastior geliebte Leitmotive und Hilfsmittel: Aufgelistet ist jedes Wort gleichberechtigt, wird jedes Wort zum Namen. […] der aufgelistete Wortschatz [evoziert] immer neue Inspiration und [deckt] immer weitere Funde auf. Wort an Wort, Lautveränderung an Lautveränderung, Sinnspur nach Sinnspur. Das Einzelwort kann ohne die Einengung durch einen Kontext seinen Bedeutungshof öffnen – alles Erinnerte, Gelesene, Gehörte, Erlebte schwingt noch mit bei der Lektüre. Es verweist auf alle seine möglichen Verwendungen, oszilliert, endet in jedem Leserkopf anders. Das entspricht dem Verfahren der konkreten Poesie, die das Einzelwort, die Silbe, den Laut, die Moleküle der Sprache nur auf sich selbst verweisen lassen will, nämlich auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit, den klanglichen und optischen Reiz und natürlich auf den Bedeutungshof, die Fülle aller möglichen Verwendungen. Das isolierte Wort, die Wortkonstellation ohne feste syntaktische Fügung sind Sprache-in-Möglichkeit – offen in ihrer ganzen potentiellen Vieldeutigkeit, Dinge im Werden, prozeßhaft also.
»Verwirren und entwirren«, heißt es bei Pastior, »man kann’s auch beschreiben nennen – betrübt die Vernunft und ist doch vernünftig. Es bedient sich listenreich und haarspalterisch der hauseigenen Mittel, um den Mystizismus auszutreiben. Beschreiben ist Beschwören. Heraufbeschwören, zitieren, vorführen, beim Wort nehmen, welches immer wieder ins Vom-Hörensagen schliddert, es am Beispiel packen, es übersetzen, übertragen, verteidigen und hochhalten. (›J’accuse‹). Die Willkür, mit der es für diverseste Interessen benützt wird – auch von mir – erkennbar machen, exorzieren«.
Es ist ein sehr sinnenfrohes Spiel, dem man erst wirklich auf die Schliche kommt, wenn man das Glück hat, dem Dichter zu lauschen. Er intoniert seine Vokabeln musikalisch. Alles ist Laut und alles scheint sich aus musikalischer Folgerichtigkeit zu ergeben. Pastior befreit sein sprachliches Material nicht von Sinn, er gibt einem musikalischen Material sprachliche Bedeutungsenergie. Seine Gedichte sind Improvisationen aus 26 Buchstaben – und diese Wortleiber sind Klangkörper, die sich einschmeicheln und im Zuhörerohr Sinnenlust, in seinem Kopf die Sinnmaschine bewegen. Gleichberechtigt sind die Wortlaute, die syntaktische Hierarchie ist aufgehoben, es ist eine 26-Ton-Musik, die vergleichbar der 12-Ton-Musik funktioniert. Keiner der Töne darf dominieren, in jeder Kadenz erklingt jeder Ton nur einmal. Dennoch gibt es Millionen Variationsmöglichkeiten. Es ist die künstlerische Entscheidung des Komponisten, welche Kombinationen in sein Hörgeflecht aufgenommen werden. Oskar Pastior geht es letztlich immer um die Semantik, er bewegt die Wortlaute so lange, bis sie ihm neue Einsichten bloßlegen. Er baut auf die Satzerwartung als treibende Kraft.
Das Muster, dem ein Text folgt, die Versuchsanordnung der Komposition, ist Oskar Pastior wichtig, und darin liegt auch einer der Gründe, weshalb er als einziges deutschsprachiges Mitglied in die Gruppe OULIPO aufgenommen wurde. Die von Raymond Queneau gegründete »Ouvroir de littérature potentielle« versammelt die Familie der »Wörtlichnehmer«, die es auszeichnet, daß sie »einander Befremdendes herstellen«. Die Oulipoten geben sich bestimmte Regeln, Beschränkungen, »contraintes« also, Formzwänge welcher Art auch immer. Eine numerische Struktur oder eine alphabetische, konsonantische, vokalische, syllabische, phonetische, reimische, rhythmische Struktur. […] Pastior liebt auch die historischen Spielformen der Poesie: Anagramme, Palindrome, das Sonett, die Villanellen und Pantums, die Sestine und natürlich die von ihm hinzuerfundenen Vokalisen und Gimpelstifte, die lustvollen Orgien »nicht nur des Wohlklangs; eher der Polysemie und syntaktischen Polyvalenz«.
Alles richtet Pastior gegen das normative Denken und gegen die unbedachte Selbstverständlichkeit der Verständlichkeitserwartung beziehungsweise die Forderung, danach zu wissen, wovon die Rede ist. […]
Die selbstgesetzte Regel ist Erkenntnisinstrument, Verfahren der Konzentration, aber: Das Schöne an freiwilligem Regelzwang ist natürlich die Abweichung aus künstlerischen Gesichtspunkten oder Ohrpunkten, die erfrischende Subversion durch Unschärfen oder Zusatzregeln.
Pastiors Jonglieren mit Klängen und Lettern ist lustvolle Sinnlichkeit, aber er bringt die Sinne zum Denken. Der Bedeutungsprozeß wird angereizt und vorangetrieben. Die Vielstimmigkeit der Texte erzeugt Ohrensausen. Die Wortdinge, die Pastior vorgibt, erschaffen sich in jedem Leser neu, münden bei jedem Leseakt in ein anderes Erfahrungsfeld – Experimentierfeld. Alles, was in die Aura der Wörter aus ihrer Geschichte, aus dem Gedächtnis ihrer Sprachverwendungen und Gefühlsfärbungen eingegangen ist, parliert aus den Zwischenräumen mit, sickert durch, drängt sich unterschiedlich heftig in den Vordergrund. Der Leser als Textbenutzer erlebt im Sprachvollzug diesen Austauschprozeß mit. Sein Interesse – sein Interesse – ist wörtlich zu nehmen: Er gerät dazwischen, er mischt sich ein in die Wörter, und mit den Wörtern ist er eingemischt in die Welt aus Wörtern, an deren Schöpfung er sich beteiligt, indem er sie aus seinem persönlichen Gedächtnis anreichert. Es geht nicht um Verstehen, es geht um das Staunen über die Sinnlichkeit der Wortkörper, und es geht darum, sich einzulassen auf die Bedeutungsfelder und aus dem eigenen Sprachgedächtnis heraus sich im Sprachfeld zu orientieren. Pastiors Ästhetik ist eine »Ästhetik des Mißverständnisses«, ein kalkuliertes Andersverstehen, ein Sinnverrücken.
[…] Die Verschlungenheit von Sprache und Denken wird offensichtlich in Pastiors Wortgeflechten. Welt gibt es nur durch Sprache. Erkenntnis gibt es nur durch Sprache. Mit Pastiors Vokabeln kommen neue Dinge in die Welt, Dinge mit ungewöhnlichen Ecken und Kanten und Abgründen, Dinge, die wir selbst erschaffen, deshalb rücken sie uns so nah, daß sie uns berühren und anrühren.
Die handfeste Sinnlichkeit der Silbenlaute, der Wortkörper und der Sprachleibe strahlt Erotik aus. Es begegnen uns Gebilde, die irritieren, die mit der eigenen Reaktion konfrontieren, die verunsichern und in ihren Reiz bannen. Selbstzweifel und Neugier, Forscherdrang und Lust am Spiel fließen zusammen und wechseln sich ab.
Pastiors Texte sollen Verführungen sein, sie buhlen um die Sympathie des Lesers, sie brauchen seine Zuwendung, um sich entfalten zu können. […] Den »Erkenntnisleib der Sprache« läßt Pastior für uns mit der Zunge schnalzen und schmatzen und stottern und singen und sich wiegen und springen und tanzen: wir erleben eine äußerst unterhaltsame Schule der Wahrnehmung und des Eigensinns. […]
christina weiss
josef anton riedl: lautgedichte {repertoire}
seit den 60er jahren schreibt der komponist josef anton riedl lautgedichte. er betrachtet die (sprech)stimme als gleichberechtigtes instrument neben traditionellen oder selbstgebauten instrumenten, für die er ebenfalls komponiert. das lautmaterial für alle seine gedichte hat er einer fernsehzeitschrift aus den 50er jahren und dem satz von georg büchner „vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.“ entnommen. den artikulationsvorgängen in mundraum und kehlkopf stellt riedl weitere körperaktionen wie hände reiben und klatschen oder füße stampfen zur seite. unterschiedlichste kompositionstechniken wendet er auf dieses material an. er bildet neue gestalten, wiederholt, variiert, streicht, stellt um. er legt die lautstärke und die sprechgeschwindigkeit fest. aus diesen elementen sind die lautgedichtfolgen im lauf der jahre zu einem labyrinthischen kosmos zusammengewuchert.
hartmut andres
was verstehen sie unter einem lautgedicht? ... für mich ist die neutralität des begriffs „laut“ sehr wichtig in meiner arbeit. also ein laut ist ein tierlaut, ist ein laut überhaupt in der natur oder auch ein industrielaut sogar, oder auch ein sprachlaut. und „gedicht“ ist eine knappe form, eine art konzentrat, mich besonders intensiv ausdrücken zu können mit solchen lauten. [...] in manchen lautgedichten wird dem sprechen händeklatschen und/oder händereiben zugeordnet. warum bezeichnen sie dies auch als lautgedicht? weil klatschen, händereiben, stampfen, gehen und so fort zunächst laute sind und dann, weil die laute direkt zum sprechen gehören. wenn leute heftig ein gespräch führen, kann es mit klatschen, händereiben, stampfen, gehen begleitet sein. sie verstehen also „laut“ als oberbegriff zu klang oder geräusch ... ja. [...] warum sind ihre lautgedichte in traditioneller buchstabenverschriftung notiert? weil ich über die anordnungs- und leseweise von lauten wie sie in der literatur geschieht, musik machen und dadurch neues gewinnen will für die musik. [...] wie würden sie ... ein musikalisches sprechen, ein „musiksprechen“, ... definieren? michael hirsch hat den titel „musiksprechen“ ... gefunden. meine version war „musik sprechen“. musik wird gesprochen, statt musik zum beispiel an der violine ausgeübt oder gespielt, vorgeführt. musik wird gesprochen – das ist wunderbar! würden sie zwischen musik spielen und musik sprechen eine grenze ziehen? nein. alles fließt. ... was stellen sie sich unter „musiksprechen“ vor in abgrenzung zum sprechen eines traditionellen gedichts? sprechen eines traditionellen gedichts vermag ich nicht in „musikprechen“ unterzubringen, mit „musiksprechen“ nicht zu verbinden. ist das vielleicht eine behauptung? nein, das ist mein maßstab. der eine spricht ein gedicht (aus der literatur), der andere spricht musik. weil sie komponist sind ?... ja, natürlich. ich bin kein dichter oder schriftsteller. wenn ich unabsichtlich in diese richtung hinüberverwechselt ... werden würde, wäre ich nicht dagegen. ... theoretisch gehören „musiksprechen“ „lautgedicht“ zur dichtkunst. dichten ist so auch musikmachen, siehe früher tondichter, tondichtung.
josef anton riedl im gespräch mit michael lentz (MusikTexte 61)
gerhard rühm: „abhandlung über das weltall“
„wie der titel sagt, handelt es sich bei dem zugrundeliegenden text um eine beschreibung des weltalls, um einen kurzgefassten populärwissenschaftlichen vortrag.
an diesem grundtext wurden nun manipulationen vorgenommen, die ihn von seiner ursprünglichen pragmatischen in eine ästhetische dimension überführen. aus repräsentation wird präsentation.
nach einer aufstellung der statistischen häufigkeit der verschiedenen phoneme die der grundtext enthält, saugen die häufigeren sukzessive die selteneren auf, bis in dem übrigbleibenden „e“ (dem häufigsten phonem der deutschen sprache) die maximale entropie erreicht ist – die sprache ist, adäquat der entwicklung des weltalls, gleichsam den kältetod gestorben. zu bemerken ist dazu, dass hierbei nach phonetischen und nicht nach phonologischen gesichtspunkten vorgegangen wurde. die zahl der verschiedenen phoneme, 28, liegt der gesamten seriellen textbehandlung zugrunde.
da die redundanz des textes relativ hoch ist, ist die handlung, die zu einer ab-handlung wird, trotz zunehmender entropie noch ziemlich lange verfolgbar. zuerst störend im sinne des versprechens, dann immer einsichtiger das prinzip herausschälend, tritt eine semantische trübung ein, kontextfremde, mehrdeutige und begriffsleere wörter entstehen. aus dem kontext werden vom hörer, gleichzeitig mit einer assotiativen ausweitung, mehr oder minder unwillkürlich die entsprechenden korrekturen vorgenommen, bis der semantische bereich bis zur unkenntlichkeit verwischt ist. in dem maße, in dem er sich inhaltlich von unserem sonnensystem entfernt, wird der text also unverständlicher und gleichzeitig gegenständlicher, elementarer, die lautgebilde bezeichnen nicht mehr begriffe, repräsentieren nicht mehr, sondern stehen für sich selbst, präsentieren phänomene jenseits der reflektionen.
die zweite manipulationsebene betrifft die raum-zeit-beziehung. wieder adäquat dem weltall, dehnt sich der text aus, zerstäubt. in dem masse indem die voneinander getrennten abschnitte kleiner werden (zuerst satzgruppen, dann sätze, dann satzteile, worte, silben und schliesslich einzellaute), werden die distanzen zwischen ihnen immer grösser, die elemente einsamer.
diesen beiden manipulationsebenen arbeitet jedoch eine dritte entgegen. der zunehmenden egalisierung und verflüchtigung gegenüber, differenzieren sich zunehmend die lautstärken – vom normalen sprechton bis zum schreien und flüstern. gemäss der emotionellen wirkung des dynamischen bereichs wurden hier die abfolgen innerhalb kleinerer gruppen durch den zufall bestimmt.“
gerhard rühm
gerhard rühm: „musikstück für einen sprecher“ {repertoire}
„der sprechtext besteht nur aus italienischen – den international gebräuchlichen – musikalischen vortragsbezeichnungen, die so „komponiert“ sind, dass vom einigermassen musikkundigen hörer ein formal durchschaubares „musikstück“ mitgedacht, imaginiert werden kann. ein zusätzlicher reiz mag beim hören noch darin liegen, dass die beschreibung mit ihren drei lautstärkestufen und ihrem rhythmischen gefüge zugleich auch ein eigenes „musikstück“ bildet. es handelt sich bei dem text um drei ineinandergreifende zyklische begriffsebenen, nämlich um lautstärke- , um tempo- und um ausdrucksbezeichnungen. um diese drei ebenen akustisch zu verdeutlichen, werden sie in verschiedenen lautstärkestufen gesprochen: die lautstärkebezeichnungen selbst piano (wie eindringlich zuflüsternd), die tempobezeichnungen mezzoforte (wie ansagend), die ausdrucksbezeichnungen forte (nachdrücklich zurufend); durch diese dynamischen differenzierungen stellen sich wie von selbst auch gewisse veränderungen der sprechlage ein. bedeutungsillustration soll jedenfalls durchweg vermieden werden; sie kommt, von dem eigentlichen „musikstück“ bewusst abgesetzt, erst im codaartigen „da capo“-anhang zum zuge: hier ist ausdrucksbestimmte interpretation vorgeschrieben – die in klammern gesetzten dynamik- und ausdrucksbezeichnungen sind diesbezügliche hinweise für den interpreten. im unterschied zu dem rythmisch präzise (doch nicht mechanisch) vorzutragenden hauptteil [...] lässt der „da capo“-anhang ein freieres zeitmass zu; er repräsentiert gewissermassen die reaktion eines imaginären publikums auf das eben zu gehör gebrachte „musikstück“.
gerhard rühm
nachdem die deutschen bedeutungen der italienischen vortragsbezeichnungen (übrigens auch einem musikalischen fachpublikum) nicht wirklich bekannt sind, habe ich mich mit billigung von gerhard rühm entschlossen eine fassung in deutscher sprache auszuarbeiten und vorzutragen.
hartmut andres
gerhard rühm: „sprechduette nach deutschen volksliedern“ (für monika) {repertoire} {projekte}
„in den sprechduetten werden die melodietöne nach der solmisationsmethode in sprachsilben übersetzt (do steht für den grundton, re, mi, fa, sol, la, si für die übrigen töne der diatonischen durtonleiter) [und auf die beiden stimmen aufgeteilt]. dabei überlagern sich jeweils verschiedene vokale, werden also simultan gesprochen. in die freibleibenden, beziehungsweise freigewordenen felder des metrischen kontinuums wurde nun – von lied zu lied alternierend, einmal vom beginn an, einmal zum schluss hin – der dazugehörige text eingefügt (texte, für die die leerstellen nicht reichen, brechen einfach ab). es handelt sich also um verse, die mit rein sprachlichem klangmaterial „vertont“ erscheinen und so auch selbst als den solmisationssilben verwandte klanggestalten ihre musikalischen qualitäten hervortreten lassen. zudem entsteht im ablauf ein rhythmisch subtil stukturiertes neben- und ineinander.“
gerhard rühm
andreas stahl: „….noch gar nichts gesagt“ {repertoire} {projekte}
nach einem jahr ziemlich verzweifelter versuche, die musikalischen aspekte von sprache – klanglichkeit von vokalen, konsonanten, der sprechhöhe etc., rhythmik, dauern, tempo – als eigenständige elemente zu komponieren, bin ich zur meinung gelangt, dass sich bedeutung, also inhalt der sprache und ihr klang nicht in einer weise trennen lassen, die nicht dem jeweils anderen schaden zufügt - den ich nicht verantworten wollte.
so hab ich mich auf das wenigste beschränkt, gewissermassen überreste dieser versuche, und das wesentlichste in den vordergrund gestellt: den sprecher. gerade in dezidiertem gegensatz zur im gleichen programm vorgesehenen „ursonate“ von schwitters, in der der fulminante redefluss den sprechenden zum dahinter verschwindenden klangerzeuger macht – das übliche schicksal von musikern, die auf der bühne zum reproduktionsapparat werden – belasse ich es weitgehend bei der „leeren“ physischen präsenz des kaum sprechenden, der damit zum sich selbst darstellenden wird.
andreas stahl
entscheidende differenz zwischen musik als (primär) klingendem und sprache als (primär) bedeutendem ist der bezug zur zeit.
beim aufnehmen von sprache verläuft die zeit ruckartig, steht gewissermassen still, bis eine bedeutungseinheit sich ergibt und fasst diese dann in einer kompression der gegenwart zu einem „augenblick“ zusammen. im weiteren aber wird die zeit nicht gestaltet – sie ordnet sich dem fluss des sprechens unter. dass dabei schwankungen des tempos – deren amplitude sich aus dem zwang zum sinn ergeben – selber bedeutung tragen können, bleibt als sekundär, als quasi psychologische unterfütterung, der bewussten wahrnehmung eher entzogen.
musik dagegen „dauert“. die unterscheidung von länge und kürze, von regelmässig – unregelmässig, klang und pause, rhythmus und puls sind ihr wesentlich.
meine ideen gehen in die richtung, einen selbstreferentiellen text (aus „die stimmen von marakkesch“ von elias canetti) in mehreren, nicht linear sich entwickelnden und stark fragmentierten durchgängen so unterschiedlichen musikalischen gestaltungsweisen zu unterwerfen, dass seine semantische ebene nie als solche zum tragen kommt. diese gestaltungsweisen beleuchten verschiedene ansätze der musikalisierung von sprache, einerseits auf rhythmisch-zeitlicher, andererseits auf phonologisch-klanglicher ebene, wobei verschiedene darstellungsformen eingesetzt werden sollen. dabei spielt nicht nur die akustische, sondern auch die optische ebene der präsentation eine wichtige rolle – ein sprecher ist nicht nur klangerzeuger, sondern auch darsteller.
dass schweigen und stille einen grossen teil des werkes ausmachen werden, sehe ich als reverenz an den text von canetti und an die eigenheiten der schweizer kommunikation, in der abbrüche und pausen eine so beredte rolle spielen.
andreas stahl
kurt schwitters: „ursonate“ {repertoire} {projekte}
die „ursonate“ von kurt schwitters entstand zwischen 1922 und 1932 und wurde durch ein plakatgedicht von raoul haussmann angeregt. in ihrer endgültigen gestalt hat sie 4 sätze, die denen einer klassischen sonate entsprechen. im 4. satz lässt schwitters sogar raum für eine ausgedehnte kadenz des interpreten. die „ursonate“ ist der erste versuch, sprachklänge – und zwar abgetrennt von einem wortsinn – als musikalisches material zu betrachten und wie musik zu gestalten. weil traditionelle vorstellungen wie tonhöhe oder harmonie auf sprachklänge nicht angewendet werden können, erfindet schwitters neue techniken damit er mit seinen sinnlosen buchstabenkombinationen komponieren kann. mund und kehle werden zum schlagzeug. in verrückten klangballungen und aberwitzigen wiederholungsketten entsteht ein feuerwerk aus rhythmen, klängen und sprechmelodien.
hartmut andres
kurt schwitters: „über meine sonate in urlauten“{repertoire} {projekte}
„allgemeine erklärungen:
meine sonate in urlauten ist auf dem ersten satz aufgebaut, einem rondo mit dem hauptthema: „fümms...“. dieses hauptthema ist teilweise entlehnt einem gedicht von raoul haussmann das sich so schrieb: „F M S B W T C U /P G G F /M Ü“ und ursprünglich nur [...] eine druckprobe [...] war. haussmann hat es mit außerordentlicher phantasie als vortrag gestaltet, und [...] etwa folgendermaßen ausgesprochen: „fümms bö wö tää zää uu /pögiff /mü“. auch das „kwiiee“ aus dem thema des ersten satzes stammt aus dem hausmannschen „Q I E“. das „de des nn nn rrrr“, oder wie ich es erst schrieb: „D D S S N N R“ ist aus dem worte „DRESDEN“ entstanden. [...] das „zätt üpsiilon iks ...“ ist aus dem alphabet entstanden, indem ich es rückwärts gelesen habe. alle andern lautverbindungen sind frei erfunden, teilweise unbewusst angeregt durch abgekürzte aufschriften auf firmenschildern oder aus drucksachen, besonders aber durch die interessanten aufschriften auf eisenbahnstellwerkhäusern, die immer so interessant wirken, weil man den sinn nicht versteht. [...]
nun etwas über den aufbau. so dadaistisch und willkürlich das sammeln der themen und anregungen war, so streng ist die innere logik, strenge und konsequenz der durcharbeitung und gruppierung. die sonate besteht aus 4 sätzen, einer einleitung, einem schluß, und siebtens einer kadenz im vierten satz. der erste satz ist ein rondo mit vier hauptthemen, [...]. den rhythmus in stark und schwach, laut und leise, gedrängt und weit usw. empfinden sie wohl selbst. die feinen abwandlungen und kompositionen der themen erklären zu wollen, wäre auf die dauer langweilig und würde den genuß des lesens und hörens beeinträchtigen können, und zum schluß bin ich kein oberlehrer. ich mache noch aufmerksam [...] auf den explosiven anfang des ersten themas, auf die reine lyrik des gesungenen „jüü – kaa“, auf den streng militärischen rhythmus des dritten themas, das gegenüber dem zitternden, lammhaft zarten vierten thema ganz männlich ist, [...]. das largo ist metallisch und unbestechlich, es fehlt sentiment und alles sensible. [...] der dritte satz ist ein echtes scherzo. beachten sie das schnelle aufeinanderfolgen der 4 kurzen themen, [...] die voneinander sehr verschieden sind, wodurch der charakter „scherzo“ entsteht: die bizarre form. der vierte satz ist der strengste und reichste im aufbau. [...] (er) ist für den vortragenden einen gute lungenprobe, besonders da die endlosen wiederholungen , um nicht zu gleichförmig zu klingen, oft eine große erhebung der stimme erfordern. [...] die kadenz nun ist ad libitum, und jeder vortragende kann nach seinem geschmack eine beliebige kadenz aus den themen der sonate zusammenstellen. ich habe nur für den eventuell phantasielosen vortragenden eine möglichkeit vorgeschlagen. [...] so.“
kurt schwitters:über meine sonate in urlauten
kurt schwitters: „auguste bolte“ {repertoire}
auguste beobachtet, sie zählt und kommt in einen erkenntniszwang. dann rennt sie und zerreißt sich fast um hinter das zu kommen, was los ist. in immer neuen an-läufen, sich zuspitzend in aberwitzigen beschleunigungen („wie im kino“) fängt sie sich im system. auguste entwickelt dann eine taktik, die in immer wieder die gleichen handlungsmuster mündet. auf der suche nach dem sinn des (ihres) lebens (nebenbei promoviert sie gar zum dr. leb) provoziert sie die gewalt der anderen, erleidet sie und schlägt schließlich zurück. obwohl sie das system ab und zu durchschaut und es ihr sogar kurzzeitig gelingt aus dem irren ablauf auszusteigen, bleibt sie doch in ihrer taktik ebenso gefangen wie dem system (und schließlich der gesellschaft) ausgeliefert. und das alles ist dabei auch noch umwerfend komisch!
schwitters sprache funktioniert in den gleichen mustern wie die handlung, die sie erzählt. zeitweise sind sprache und handlung einander so nahe, dass nicht mehr nachvollzogen werden kann, welches eigentlich die treibende kraft ist. reime zwingen die handlung weiter. die grammatik läuft heiß und überschlägt sich. sätze werden immer länger und verschachteln sich atemlos ineinander. plötzlich prägt sich ein rhythmus oder sogar ein versmaß aus. ständig wird diese verbindung von sprache und handlung ins bewusstsein gerückt. sogar während sich auguste in der verfolgung ihrer ideen fast überschlägt, ist sie noch in der lage, darüber nachzudenken, welches denn jetzt der richtige infinitiv wäre. die immer gleichen handlungsmuster zeigt schwitters in immer neuen wiederholungen und variationen auf allen ebenen der sprache: von teilen, abschnitten, sätzen, wörtern, silben und phonemen. virtuos montiert er die sprachebenen von wissenschaftlicher abhandlung, volksprache, schundroman, erkenntnistheorie und slapstick ineinander. immer wieder leuchten eingemerzte banalitäten auf: ins banale gewendete sinnsprüche und zitate. (was in der bibel steht als: „und der knecht hieß malchus.“, wird bei schwitters zu: „und der herr hieß mayer.“)
hartmut andres
emmett williams: „musica” {repertoire} {projekte}
“In 1965, to celebrate the 700th birthday of Dante, a group of students transferred the 14.233 lines of the Divina Commedia in the same number of IBM-cards, and with the help of an IBM 1070, subjected the 101.400 words to a variety of data searches. [...] In any case, the students made some astonishing discoveries. Some of them, as a practising poet and performer, I found inspirational. For example the key words Dante used most often in his epic. After all, the man and his muse knew what they were doing, I assume, and these nine words must have some special relevance. occhi: 213 times; mondo: 143; terra: 136; dio: 112; maestro: 111; ciel: 105; mente: 100; amor: 87; dolce: 87.
These poetic statistics soon found their way into my own work, a performance piece called musica. The title, I confess, is not all Dantesque, for the word musica doesn’t appear a single time in an otherwise very musical poem. [...]
The nine words are arranged, in the beginning, in nine rows, in alphabetical order.Their gradual disappearance during the litany creates abrupt rhythmical changes, which in turn provoke other variations and surprises – in Italian, of course, but also in French, German, Polish, English and Japanese, [...].
In performance I spread out the text on music stands from one end of the stage to the other. Because each variation requires a complete change of character, for the solo performer moving across the stage from stand to stand is an effective way to ease this transitions. [...]”
emmett williams: my life in flux – and vice versa